Die meisten Leute denken, dass ihre Wahrnehmung der Umwelt und von anderen Menschen der Realität entsprich. Natürlich, da wir alle in unserem Kopf leben, halten wir unsere Gedanken und Meinungen in der Regel für die Richtigen. Was aber, wenn ich dir jetzt sagen würde, dass eigentlich alles was du wahrnimmst, durch deine Vorerfahrungen, Ängste, Einstellungen etc. beeinflusst wird? Das es nicht die eine objektive Realität gibt? Teilweise projizieren wir Einstellungen und Annahmen auf andere Menschen, die diese möglicherweise nicht haben und erzählen uns selbst eine Geschichte oder füllen fehlende Informationen mit unseren Erfahrungen. 

Falls du dich noch nie mit diesem Gedanken beschäftigt hast, klingt er wahrscheinlich zunächst fremd für dich. Wir können uns dies anhand eines Beispiels vor Augen führen. 

Beispiel

Nehmen wir an, wir haben eine Seminargruppe mit verschiedenen Teilnehmern. Der Seminarleiter sucht einen Freiwilligen für eine Präsentation und Max meldet sich (ein 22-jähriger, trainiert- und sportlich wirkender Mann). 

Yvonne (23 Jahre, leicht übergewichtig) denkt vielleicht: ‚oh man, der hat so ein Selbstbewusstsein, so ein Mann wird sich nie für mich interessieren‘ und fühlt sich in Folge schlecht und minderwertig. 

Georg (50 Jahre, leicht grau melierte Haare, sportliche Figur) denkt sich: ‚Mensch, in dem Alter hätte ich mich das nicht getraut, wirklich bewundernswert‘. Das motiviert ihn und er nimmt sich vor sich zu dem nächsten Vortrag auch zu melden. Auch er denkt, dass Max ein großes Selbstbewusstsein hat. 

Johannes (40 Jahre, ebenfalls sportlich, Manager) denkt sich: ‚was für ein kleines Würstchen, der meldet sich jetzt nur, um sich hervorzutun und seine Unsicherheit zu kaschieren. Den lass ich richtig Auflaufen, für wen hält der sich.‘ Johannes fühlt sich verärgert.

Und dann gibt es noch Lisa (25 Jahre, mit Max befreundet und sie sind zusammen beim Seminar). Lisa denkt sich, ‚oh man, dass überrascht mich jetzt, schön das Max seine Ängste überwindet‘ und ist stolz auf Max. Lisa fühlt sich gut und zufrieden.

Max hat in Wahrheit große Angst Präsentationen zu halten, da er in der Schule immer aufgrund von Übergewicht gehänselt wurde. Er hat vor zwei Jahren angefangen abzunehmen und zu trainieren und hat in seiner Psychotherapie Wege erarbeitet, mit seinen sozialen Ängsten umzugehen. Deswegen meldet er sich, obwohl er Angst hat.

Deine Vorerfahrungen und Einstellungen prägen deine Sicht

Man könnte noch zahlreiche andere Seminarteilnehmer aufzählen und jeder hätte andere Gedanken zur der identischen Situation. Du erfasst nie die komplette Realität, sondern sie ist durch deine Erfahrungen und Annahmen geprägt. Vielleicht würden viele Menschen ebenfalls Max großes Selbstbewusstsein attestieren, da er jung und sportlich ist, und man das typischerweise mit Selbstbewusstsein verbindet. Ob du dich dann damit gut oder schlecht fühlst, hängt im Folgenden von deiner Attribution ab. Was bedeutet das für dich, dass Max vermeintlich Selbstbewusstsein hat: fühlst du dich dadurch eingeschüchtert, imponiert es dir, löst es Neid, Scham oder Missgunst aus? Selbst wenn man die Situation auflösen und den Teilnehmern mitteilen würde, dass Max in Wahrheit unsicher ist und sich deshalb so verhält, hätten sie die unterschiedliche Gedanken und Gefühle dazu.

Deine Wahrnehmung der Realität gibt Rückschlüsse auf dein Innenleben

Wie du die Realität siehst, gibt am Ende mehr Rückschlüsse darauf, wie es dir geht und was in dir vorgeht. Wenn du aus dem Seminar nach Hause kommst und erzählst: „Mensch, da war so ein attraktiver junger trainierter Typ, der hat sich freiwillig gemeldet. Ja klar, die Welt ist unfair, schöne Menschen haben natürlich auch noch mega das Selbstbewusstsein und können sich verkaufen. Ich selbst bekomme das nie hin und habe immer nur Pech. Zum Sport kann ich mich jetzt auch nicht mehr aufraffen. Gegen so jemanden komme ich nicht an. Vielleicht bin ich eh falsch in dem Seminar. Der Leiter hat sich auch so extrem gefreut. Ich finde auch, dass er Max bevorzugt. Vielleicht weil er ein Mann ist.“

Wenn ich deinen Ausführungen folge, weiß ich im Endeffekt eigentlich nur sehr wenig über die reale Situation, aber ich habe in der Regel ganz viel über deine Themen gelernt. Das können Themen wie Fairness, Benachteiligung, eigene Minderwertigkeit, Neid und Unzufriedenheit mit dir selbst sein. Warum Max sich in Wirklichkeit so Verhalten hat und warum der Seminarleiter sich darüber freut (möglicherweise weiß er um Max’s Ängste), kann ich den Schilderungen nicht entnehmen. 

Eigene Themen an Projektionen erkennen

Das heißt, dass du auch an deiner Wahrnehmung der Welt erkennen kannst, bei welchen Themen du genauer hinschauen solltest. Möglicherweise fällt dir bei dir selbst auf, dass du Situationen häufig auf eine bestimmte Art und Weise wahrnimmst (beispielsweise, dass andere dich unsympathisch finden oder mehr Selbstbewusstsein haben als du). Was wäre, wenn deine Wahrnehmung vielleicht gar nicht der Wahrheit entspräche, sondern nur deine Gedanken zu dir selbst widerspiegelten? Könnte es auch andere Erklärungsansätze geben. Würde ein anderer dieselbe Situation vielleicht anders beurteilen?

An bestimmten sich wiederholenden Mustern kannst du auch gut sehen, was deine Themen sind und woran du noch arbeiten kannst. Insbesondere, falls du dich mit deiner Wahrnehmung der Realität häufig schlecht fühlst und es meist negative Gefühle in dir auslöst. Es kann sich durchaus lohnen, die eigene Realität einmal völlig in Frage zu stellen und wie ein Kind, ohne entsprechende (meist negative) Vorerfahrungen, die Situation zu begreifen versuchen. 

Deine Annahmen beeinflussen deine Realität

Was zusätzlich problematisch sein kann, ist nicht nur, dass du die Welt so siehst, dass du dich tendenziell schlecht fühlst, sondern dass deine Wahrnehmung der Welt natürlich auch dein Verhalten stark beeinflusst. Wenn du beispielsweise Verhalten anderer Menschen eher feindselig deutest, kann es sein, dass du dich ebenfalls feindselig verhältst. Das wiederum kann in dem anderen eine abweisende Reaktion hervorrufen und schon führt es einen in einen Teufelskreislauf. In letzter Konsequenz bestätigen sich dann deine Annahmen, jedoch nicht, weil sie ursprünglich richtig waren, sondern weil sich aufgrund deiner Annahmen die Situation so entwickelt hat (Stichwort: Selbsterfüllende Prophezeiung).

Manche Menschen sind regelrecht in diesen Teufelskreisläufen gefangen ohne dies zu erkennen. Was natürlich nicht heißt, dass es in jedem Fall so ist und die Grundannahmen immer falsch sind. Allerdings kann selbst in einem Beispiel, in dem der andere mir potentiell eher negativ gesinnt war, eine positive Grundannahme zu dir ja auch dazu führen, dass du dich locker und witzig verhältst und auch positive Gefühle im anderen hervorrufst. Auf jeden Fall wirst du dich wahrscheinlich mit einer wohlwollenderen Wahrnehmung besser fühlen.

Fazit

Es gibt keine objektive Realität, sondern verschiedene Menschen, nehmen Situationen auf unterschiedliche Arten wahr und fokussieren sich auf voneinander abweichende Aspekte. Dies hängt stark mit unseren Vorerfahrungen und Annahmen von uns selbst zusammen. Im Verlauf beeinflussen deine Annahmen dann auch häufig dein Verhalten und die Entwicklung der Situation. Es lohnt sich, die eigene Realität zu hinterfragen.

Bild von Christian Hirsch

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